„Medizin leben. Mensch sein.“ So lautet der Leitspruch des Marienhospitals. Aber was genau heißt es für ein modernes, effektiv durchstrukturiertes Krankenhaus, den einzelnen Menschen wirklich in den Mittelpunkt zu stellen? Können wir uns das zeitlich, personell und finanziell überhaupt leisten? Dazu versucht Professor Dr. Thomas Hehr hier eine Antwort. Er ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Strahlentherapie und Palliativmedizin des Marienhospitals.
Unser Anliegen: Patienten gut und umfassend zu informieren
Radioonkologen sind Medizinier, die Krebs mittels Strahlung behandeln. Ihnen haftete früher das Vorurteil an, sie betrieben reine Gerätemedizin. Also sozusagen fast das Gegenteil der von Patienten wie Experten gleichermaßen geforderten sprechenden Medizin. Radioonkologen im Marienhospital Stuttgart sprechen heute intensiv mit ihren Patientinnen und Patienten. Denn zur Heilung eines an Krebs erkrankten Menschen gehört nicht nur, dass man seinen Tumor mittels Hightechgeräten zerstört. Es gehört auch dazu, ihn gut und umfassend zu informieren, ihn in die Behandlungsplanung einzubinden und Vertrauen aufzubauen. Denn damit relativiert sich fast immer die Angst vor der Behandlung und verbessert sich das Verständnis der eigenen Erkrankung.
Oft ist die Kommunikation eher einseitig
Den Patienten über seine Erkrankung zu informieren, ist eine eher einseitige Kommunikation. Der Arzt redet, der Patient hört zu. Den betroffenen Menschen wirklich in den Mittelpunkt zu stellen und mit ihm zu kommunizieren, ist zunächst mehr Zuhören als Reden. So muss man als Arzt auch die sozialen und gesellschaftlichen Determinanten des Kranken oder der Kranken berücksichtigen und die Behandlung in manchen Fällen auch an den sich daraus ergebenden Bedürfnissen ausrichten.
Der Mediziner Jonathan David macht das anhand eines seiner Patienten deutlich: Ein Landwirt hätte wegen einer schweren Erkrankung dringend in die Klinik aufgenommen werden müssen. Aber er weigerte sich und sagte: „Wenn ich stationär ins Krankenhaus gehe, werde ich meine Farm verlieren. Denn ich habe niemanden, der mich dort bei meiner Arbeit vertritt.“ Der Landwirt machte den Vorschlag, jeden Tag zur Klinik zu kommen und sich dort ambulant behandeln zu lassen. Das erforderte seitens der Klinik ein organisatorisches Umdenken und Mehraufwand. Der Arzt musste sich für die besondere Übereinkunft mit seinem Patienten daher auch vor Kollegen und Vorgesetzten rechtfertigen. „Aber“, so schreibt Jonathan David, „der Bauer hielt Wort, kam jeden Tag in die Ambulanz und wurde gesund.“ Der Fall habe ihm die Augen dafür geöffnet, dass man Behandlungs- und Pflegepläne nicht nur vom medizinisch Sinnvollen und zugleich organisatorisch möglichst Unaufwendigen abhängig machen darf.
Vermutlich kostet das Klinik und Gesellschaft nicht mal mehr Geld. Denn wäre der Landwirt nicht rasch in die Klinik gegangen, hätte sich seine Krankheit womöglich verschlimmert, und am Ende hätte ein längerer, teurerer Klinikaufenthalt gestanden. Und noch wichtiger: Der Patient hätte Gesundheit und Farm verloren.
Nicht immer ist das Sinnvolle sinnvoll
Die Orthopädieprofessorin Mary O'Connor erzählt von einer hochbetagten Patientin, die wegen Arthritis in den Knien im Rollstuhl saß. Die Angehörigen brachten die alte Dame zu ihr und baten darum, dass sie operiert würde, damit sie den Rollstuhl wieder verlassen könne. Mary O'Connor sprach dann länger mit der alten Dame über ihre Lebenssituation. Dabei stellte sie fest, dass die Patientin in einem Heim lebte und sich mit dem Rollstuhl arrangiert hatte. Sie genoss es sogar, darin von Mitbewohnern und Pflegekräften spazieren gefahren zu werden. Und dass sie sich in ihrem Alter Operation, Narkose und vor allem die anstrengende Reha gar nicht mehr zumuten wollte. „Hätte ich die Entscheidung rein medizinisch getroffen, hätte ich die Frau operiert. Nach dem Gespräch mit ihr waren mir ihre Erwartungen und ihre ganz individuelle Sicht auf ihr Leben klar. Ich riet von der Operation ab. Dies haben letztlich auch die Angehörigen verstanden, als ich es ihnen erklärte“, sagt die Ärztin.
Wirkliche Kommunikation mit Patienten bedeutet also auch, dass man ihre psychosoziale Situation berücksichtigt. Das kann, muss aber nicht zwangsläufig zu einer etwas zeitaufwendigeren und teureren Behandlung führen. Aber diesen organisatorischen Mehraufwand sind wir der Gesundheit und dem Wohlbefinden unserer Patientinnen und Patienten schuldig. Das gilt für jedes Krankenhaus, aber besonders für eines wie das Marienhospital, das sich selbst den Leitspruch „Medizin leben. Mensch sein.“ gegeben hat.