Das Boerhaave-Syndrom ist ein plötzlicher Riss der Speiseröhre nach heftigem Würgen, Husten oder Erbrechen. Es wurde 1724 erstmals vom niederländischen Arzt Herman Boerhaave beschrieben. Die Erkrankung ist selten; in der weltweiten medizinischen Fachliteratur sind nur rund 1000 Fälle festgehalten. Der Essinger Rudolf Hans Quendt war aber bereits der dritte Boerhaave-Patient, der in der Marienhospital-Chirurgie behandelt wurde.
Wie die Krankheit zu ihrem Namen kam
Herman Boerhaave liebte ausschweifende Essgelage. Nach einem solchen verstarb einer seiner Freunde urplötzlich, nachdem er sich zuvor erbrochen hatte. Der Arzt obduzierte den ansonsten kerngesunden Freund und erkannte als Todesursache den Riss der Speiseröhre. Seither trägt die Erkrankung den Namen Boerhaaves. Das Syndrom tritt vermutlich dann auf, wenn beim Erbrechen ein hoher und schneller Druckanstieg in der Speiseröhre mit einem Unterdruck im Brustkorb einhergeht.
Letzte Erinnerung: rote Hosen
Für den 1965 in Crailsheim geborenen Elektroinstallateur Rudolf Hans Quendt ging dem Riss seiner Speiseröhre allerdings kein Festgelage voraus, sondern ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Am 4. Oktober 2018 war er als Leiter einer Baustelle in Zuffenhausen tätig. „Ich ging mittags in die Kantine, aß zunächst mit Appetit, aber schon nach drei Gabeln hatte ich ein Völlegefühl, als wenn ich den ganzen Teller leergegessen hätte“, erinnerte er sich. Auch Kaffee und Luftschnappen halfen nicht gegen die Magenverstimmung. „Und als ich nach der Arbeit zu Hause in Essingen ankam, wurde es immer schlimmer.“ Um 19 Uhr musste sich Rudolf Hans Quendt dreimal heftig übergeben. „Direkt danach spürte ich einen starken Schmerz in der Speiseröhre und brach ohnmächtig zusammen.“ Seine Schwiegertochter alarmierte sofort den Notarzt. „Ich wachte noch mal kurz auf, als die Sanitäter kamen. Ich kann mich an schwarze Stiefel und rote Hosen erinnern“, sagt der 54-Jährige. Danach fiel er ins Koma, aus dem er erst eine Woche später wieder erwachen sollte.
Zunächst, so habe er später erfahren, sei er in ein Krankenhaus in der Nähe seines Wohnorts transportiert worden. Die Ärzte dort hatten aber mit dem extrem seltenen Boerhaave-Syndrom keine Erfahrung. Und so wurde der Patient umgehend ins Marienhospital gefahren. „Wir hatten in den vergangenen Jahren schon zwei Boerhaave-Patienten. Deshalb trauten wir uns die Behandlung von Herrn Quendt zu“, so Professor Dr. Michael Schäffer.
Unbehandelt ist die Erkrankung tödlich
Michael Schäffer ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie des Marienhospitals. In einem siebenstündigen Eingriff operierte er den Patienten. Dieser litt inzwischen an einer schweren Sepsis (Blutvergiftung), weil Nahrung und Magensäure durch die geplatzte Speiseröhre in den Körper gelangt waren. „Unbehandelt ist die Erkrankung tödlich. Wir mussten die Speiseröhre bis auf ein kurzes Stück unterhalb des Kehlkopfs entfernen und den Magen zunähen“, sagt Professor Schäffer. Eine Woche lang, so Rudolf Hans Quendt, habe er danach auf der Intensivstation im Koma gelegen. Ernährt wurde er über eine PEG-Sonde. Die Abkürzung steht für Perkutane Endoskopische Gastrostomie. Durch einen Schnitt in die Bauchdecke wird ein elastischer Kunststoffschlauch in den Magen gelegt. Über den Schlauch werden dem Patienten mithilfe einer Pumpe von außen Nahrung und Flüssigkeit zugeführt.
„Als ich nach einer Woche aufwachte, war ich total geschwächt. Ich hatte inzwischen so viel Muskeln abgebaut, dass ich zunächst nicht mal mehr mein Handy halten konnte“, erinnert sich der Patient. Er habe zudem unter starken Konzentrationsschwierigkeiten gelitten. Vier Wochen habe er danach noch im Marienhospital verbracht und sich langsam erholt. „Ich bin dann vier Tage daheim gewesen und habe danach eine fünfwöchige Anschlussheilbehandlung in einer Rehaklinik in Bad Mergentheim gemacht“, sagt er. 14 Kilo hatte er inzwischen abgenommen. Die Reha habe ihn aber so fit gemacht, dass er auch wieder ein längeres Stück gehen und eine Treppe hochsteigen konnte.
Irgendwann kommt Heißhunger
Zunächst, so Rudolf Hans Quendt, habe es ihm nichts ausgemacht, nicht normal essen und trinken zu können. „Doch irgendwann kommt der Heißhunger. Man will wieder kauen, schmecken und schlucken.“ Man habe ihm aber bei seiner OP unterhalb des Kehlkopfs einen Zugang zum noch vorhandenen Rest seiner Speiseröhre gelegt. „Ich konnte daher essen und trinken. Die Speisen und Getränke landeten dann nicht im Magen, sondern in einem Kunststoffbeutel, der über einen Schlauch mit den Speiseröhrenrest verbunden war. Das war seltsam, aber ich war so froh, auf diesem Weg mal wieder Dinge wie Wurstsalat schmecken zu können“, sagt er. Auch aus medizinischen Gründen sei das Kauen wichtig, so Professor Schäffer. „Dadurch bleibt der Kiefermuskel stabil und bildet sich nicht zurück.“
Ein halbes Jahr ohne Speiseröhre
Fast ein halbes Jahr lang musste Rudolf Hans Quendt ohne Speiseröhre und mit zugenähtem Magen leben. „Die Ärzte sagten mir, dass man mich erst dann nochmals operieren könne, wenn ich wieder fit bin und mich von der Sepsis und allem anderen erholt habe“, berichtet der Patient. Am 13. März 2019 operierte ihn Professor Schäffer erneut, um seine Speiseröhre wiederherzustellen. „Dafür gab es zwei Optionen. Die erste war, den Magen weit hochzuziehen und aus dem oberen Magenabschnitt eine neue Speiseröhre zu formen“, so der Chirurg. Diese Möglichkeit schied bei Rudolf Hans Quendt aber aus. Sein Magen hatte sich durch die lange Sondenernährung zu sehr verkleinert. „Wir entschieden uns daher, die Speiseröhre aus einem Stück Dickdarm nachzubilden“, erläutert Professor Schäffer. Der Dickdarm ist rund 1,5 Meter lang. Seine Funktion wird kaum beeinträchtigt, wenn ein Stück entfernt wird, aus dem man eine etwa 30 Zentimeter lange Speiseröhre formen kann.
Operationsverlauf nach Plan
Die Operation verlief wie geplant. Das Essen und Schlucken klappe auch schon wieder, erzählte Rudolf Hans Quendt zwei Wochen nach dem Eingriff. Allerdings könne er nur breiige oder sehr klein geschnittene Kost zu sich nehmen, müsse lange kauen und viel nachtrinken. Der Grund: „Die nachgebildete Speiseröhre hat keine Peristaltik wie die ursprüngliche. Sie befördert die Nahrung also nicht durch Eigenbewegungen in den Magen, sondern mittels Schwerkraft“, sagt Professor Schäffer. „Aber ich habe überlebt. Es geht bergauf, und ich werde in absehbarer Zeit auch wieder arbeiten können“, so Rudolf Hans Quendt lächelnd.