Das Instrument des Jahres 2025 ist die Stimme – das älteste und vielseitigste Instrument der Menschheit. Stimme und Stimmgebung finden im Kehlkopf statt. Alles muss durch den kleinen Raum, durch die Kehle, hindurch.
Mein Atem bringt die Stimmbänder zum Schwingen. Ich brauche die lebendige Luft. Beim Ausatmen entsteht Klang – da muss ich loslassen. In meiner Stimme offenbart sich etwas von mir, meine Stimmung, mein Befinden. Ich zeige mich, wie ich bin – nicht perfekt, mit all den Höhen und Tiefen, die ich durchlebe.
Was für die Sprechstimme gilt, gilt auch für die Singstimme. Wenn ich spreche oder singe, bin ich als ganzer Mensch präsent. Mein Körper nimmt eine innere und äußere Haltung ein – ich baue Spannung auf und lasse wieder los.
„Näfäsch“ – im Hebräischen, der Ursprache des Alten Testaments – bezeichnet den Ort des Lebens, das Zentrum des Menschen. Es bedeutet „Kehle“ und im übertragenen Wortsinn „Seele“. Gemeint ist das „Ich“, die Person in ihrer Ganzheit.
In der Schöpfungsgeschichte wird erzählt, dass Gott ein „Erdmenschlein“ schuf: „Adam“, den Menschen aus der „Adama“, dem Ackerboden. Und Gott blies ihm seinen Atem in die Nase – so wurde er ein lebendiges Wesen. Mit jedem Atemzug wiederholt sich dieses ursprüngliche Lebendigwerden. Jeder Atemzug kann zur Erinnerung werden, zur Meditation: Ich bin lebendig von Gottes Atem. Gottes hauchender Impuls von einst, er wirkt bis heute.
Lebendige Luft strömt durch Nase und Kehle ein, füllt meine Lungen, versorgt mein Blut, meinen ganzen Körper mit Sauerstoff – und strömt wieder hinaus. So lebe ich. So atme ich. So bin ich. Und wenn kein Atem mehr fließt, endet das Leben.
Die jüdisch-christliche Sicht auf den Menschen entspricht der stimmtherapeutischen Überzeugung, dass Stimme, Kehle und Person auf komplexe Weise miteinander verbunden sind. Durch den engen Raum der Kehle muss alles hindurch, was ein Mensch aufnimmt – Luft, Lebens-notwendiges wie Essen und Trinken – und ebenso alles, was aus ihm herausdringt: Worte, Seufzer, Töne, Lieder. Alles, was das Herz bewegt und nicht verschlossen bleiben kann oder will.
„Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“, sagt Jesus in tiefster Verzweiflung zu seinen Freunden im Garten Gethsemane. Wer große Angst erlebt, kennt das Gefühl eines schweren, körperlich-seelischen Drucks, der auf der Kehle lastet.
In Psalmen und Chorälen begegnet uns oft eine innere Zwiesprache, eine Aufforderung an sich selbst: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ (Psalm 103). „Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön!“ (Paul Gerhardt) – das ist Leichtigkeit, wenn mir vor Freude der Sinn nach Singen und Jauchzen steht.
Ihre Klinikseelsorgerin
Gisela Fleisch-Erhardt